2018-08-05 / Freiheitsgrade – Eine Gratwanderung
Freiheitsgrade – Eine Gratwanderung
Wie falsch gegebene Anweisungen die Motivation ersticken.
Eine Anweisung zu geben, ist ein Balanceakt. Zu eng und detailliert, wirkt sie demotivierend. Zu weit und großzügig formuliert, verunsichert sie. Doch welche Situation braucht welche Anweisung, welche Mitarbeiter kommen mit wie viel Vorgabe zurecht? Ein Dauerbrenner der Führungsarbeit.
Als Führungskraft haben Sie das Recht, manchmal sogar die Pflicht, den anvertrauten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Anweisungen zu geben; sie müssen dann gemäß diesen Anweisungen arbeiten. Tun sie es nicht, kann es eine Abmahnung geben. Das Nicht-Ausführen einer Anweisung gehört zu den wenigen Gründen, für die eine Abmahnung ausgesprochen werden darf. Und logischerweise muss es auch so sein. Denn wie sonst soll das System funktionieren?
So weit, so gut. Das Prinzip ist einfach. Doch wie so oft bei einfachen Prinzipien, ist die praktische Ausführung extrem schwierig, sobald man sich die Details anschaut.
Details: Was sind überhaupt „Details“ im Zusammenhang mit Anweisungen? Da gibt es zum Beispiel die Dringlichkeit, die Kompetenz des Mitarbeiters oder der Wissenstand der Mitarbeiterin, die Komplexität der nötigen Handlungen, politische Dimensionen, Zuverlässigkeit der Arbeitenden, Vertrauen der Führungskraft oder der Mitarbeiter, der Ton, in dem die Anweisung erteilt wird, die Form, in der sie gegeben wird… um nur einige Details zu nennen.
Der Erfolg der Aktion, mit der die entsprechende Anweisung verbunden ist, hängt davon ab, wie geschickt die Führungskraft mit allen Details beim Geben der Anweisung umgeht.
Warum dieser ganze Vorspann rund um das Thema Anweisungen, wenn es doch um die Frage nach Freiheit gehen soll? Weil eine Anweisung streng genommen die Handlungsfreiheit desjenigen einschränkt, der die Anweisung entgegennimmt. Die mangelnde Freiheit steckt schon in der Redewendung „weisungsgebunden arbeiten“. Um es deutlich zu sagen: Wer weisungsgebunden tätig ist, hat einen (manchmal wichtigen Teil) seiner Freiheit aufgegeben.
Vielleicht regt sich bei diesen Aussagen bereits bei Ihnen der Wunsch zu widersprechen? Eine Anweisung befolgen, muss doch nicht zwangsläufig ein Gefühl der Unfreiheit bedeuten! Möglicherweise arbeiten Sie selbst weisungsgebunden, verspüren aber deshalb nicht gleich ein Gefühl der Unfreiheit. Sollten Sie diesen Einwand an dieser Stelle erheben wollen, hätten Sie damit völlig Recht! Manchmal kann das Begrenzen der Freiheit sogar die Quelle großer kreativer Kraft sein. Kreativität ist bekanntlich mit der wichtigste Ausdruck von Freiheit.
Werfen wir einen kurzen Blick in die Welt der Kunst. Klassische Musiker – die wir heute gern als Genies bezeichnen – wie Bach, Beethoven, Brahms hielten sich an sehr strenge Regeln für ihre Kompositionen. Manchmal schränkten sie sich sogar selbst ein, wie es zum Beispiel Verdi tat. Er zwang sich, jeden Tag eine Fuge zu komponieren, die auf den Tönen irgendeines Geräusches aufbaute, das er zufällig in dem Augenblick hörte, in dem er sich zum Komponieren hinsetzte: das Summen einer Fliege, das Klappern einer Kaffeetasse, den Hufschlag eines Pferdes.[1]
Was war das Ergebnis dieser massiven Einschränkungen? Eine Explosion an Kreativität! „Na also!“ werden Sie jetzt sagen. „Dann sind Anweisungen ja etwas ganz Wunderbares.“ Aber natürlich ist es nicht so einfach. An unserem Künstlerbeispiel gibt es nämlich ein paar Haken, die einer näheren Betrachtung bedürfen. Am auffälligsten ist die vom Künstler selbstverordnete Disziplin. Natürlich gab es auch einen gesellschaftlichen Druck, sich an strenge Formen zu halten. Ohne diesen Respekt der Regeln wäre ein Werk schlicht und einfach nie aufgeführt worden. Doch der Künstler hätte auch rebellieren und dankend auf sein Künstlertum verzichten können. Nach dem Motto: „Wenn ich schon nicht so schaffen kann, wie ich es für richtig halte und wie es meiner Kreativität entspricht, dann lasse ich es lieber ganz bleiben…“ Wie es scheint, haben die Künstler, deren Namen wir heute noch kennen und deren Werke wir bewundern, sich erfolgreich an die Regeln gehalten und sie von innen heraus weiter vorangetrieben. Das Wesentliche für unser Thema hier ist die Bereitschaft, einengende Leitplanken anzuerkennen und konstruktiv zu nutzen. Bei ausreichender Reife kann ein Schaffender verstehen, wie man dank formaler Einschränkungen zum besseren Künstler wird. Ähnlich geht es einem guten Ingenieur. Grenzen fordern heraus, neue Lösungen zu finden.
Wir können also festhalten, dass es möglich ist, innerhalb klar definierter Grenzen kreativ zu sein. Die Frage ist, ob es sich immer so verhält oder ob es Bedingungen gibt, unter denen diese Annahmen nicht mehr zutreffen. Ich denke, jeder von uns weiß, dass es sehr wohl solche Bedingungen gibt. Diejenigen, auf die wir uns im Folgenden konzentrieren wollen, haben etwas mit Anweisungen zu tun. Denn tatsächlich gibt es eine Grenze, die nicht überschritten werden darf, damit die Motivation nicht zerstört oder zumindest stark in Mitleidenschaft gezogen wird. Diese Grenze ist die Genauigkeit der Anweisung beziehungsweise der Freiheitsgrad, der einem Menschen zugebilligt wird, um eine Tätigkeit auszuführen. Wenn sich Beethoven beispielsweise beim Schreiben des ersten Satzes einer Sonate nicht nur an die klassische Form hätte halten müssen (Exposition, Durchführung, Reprise, Coda), sondern ihm für jeden Teil auch die Taktart, die Tonart, die Taktzahl, die Menge der Pausen, die Menge an Wiederholungen, die Menge an Dreiklängen usw. vorgegeben worden wäre, hätte er sicher an einem bestimmten Punkt für den Auftrag gedankt und hätte sein Geld lieber als Straßenmusiker in den Gassen von Bonn oder Wien verdient. Er wäre weder kreativ gewesen, noch hätte er die geringste Lust verspürt, ein solches Stück zu komponieren, Genie hin oder her. Dieser Mangel an Motivation ist auch leicht zu verstehen: Solch detaillierte Anweisungen bringen keinerlei Mehrwert für den Kompositionsprozess oder die Güte des am Ende entstehenden Stückes. Ganz ähnlich verhält es sich für jede andere Tätigkeit und jeden anderen Menschen, also auch für Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wenn Sie, beim Geben der Anweisungen, eine gewisse Grenze in der Präzision überschreiten, erreichen Sie bei jedem irgendwann einen Punkt, an dem der innere Revolutionär aktiviert wird.
Aus dem alten Indien ist uns dazu ein einleuchtendes Bild überliefert worden. Stellen Sie sich vor, Sie sind als Tourist unterwegs und kommen in einer Stadt an, die Sie gern besichtigen möchten. Suchen Sie sich einfach eine Stadt aus, die Sie schon immer interessiert hat: Oslo, Shanghai, San Francisco, Rom… Sie kommen an, fahren durch die Straßen zu Ihrem Hotel. Auf der Fahrt sammeln Sie erste Eindrücke, schauen nach rechts und nach links und freuen sich auf die vielen schönen Dinge, die Sie sehen werden. Im Hotel checken Sie ein und bringen Ihr Gepäck aufs Zimmer. Nach einer kleinen Pause gehen Sie zurück in die Lobby und steuern auf den Ausgang zu. Da kommen zwei freundliche, aber ernst wirkende Herren in dunklen Anzügen auf Sie zu, die sich als Polizisten ausweisen. Diese informieren Sie, dass Sie sich gern in der Stadt umschauen können und Ihr Programm genau wie geplant ablaufen kann. Allerdings dürfen Sie die Stadt nicht verlassen, bis Ihnen neue Anweisungen erteilt werden. Die genauen Gründe dafür könne man Ihnen leider nicht sagen, man bedaure sehr, bitte Sie aber um Verständnis für diesen „Stadtarrest“. Sie mögen sich durch diese Unannehmlichkeiten nicht davon abhalten lassen, die Schönheit der Stadt zu genießen und so weiter und so fort. Mit höflichem Gruß gehen die Herren, nachdem sie klar gemacht haben, dass jeder Ihrer Schritte verfolgt wird, da Sie schließlich die Stadtgrenze nicht überschreiten dürfen.
Wie geht es Ihnen nach dieser Begegnung? Wie sehr freuen Sie sich jetzt auf den Besuch der Stadt? Wahrscheinlich kann von Genießen jetzt keine Rede mehr sein. Und eine Stadt, in die Sie freiwillig gekommen sind und in der Sie gern ein paar Tage verbringen wollten, wird plötzlich zu dem Ort auf der Welt, an dem Sie keine Sekunde länger bleiben wollen. In diesem Fall wird Ihr innerer Ausbrecher aktiviert.
Ob innerer Revolutionär oder innerer Ausbrecher, beide Energien wollen Sie als Führungskraft bei Ihren Mitarbeitern möglichst nicht aktivieren. Daher empfiehlt es sich, sehr sorgfältig zu prüfen, wie die Qualität der Anweisung ist, die wir üblicherweise geben. Offensichtlich können wir zwischen zwei Tendenzen hin und her pendeln: zu eng oder zu weit. Beides ist in der Praxis zu beobachten, wobei in der Regel das zu Enge überwiegt. Wir wollen dennoch kurz einen Blick auf beide Tendenzen werfen.
Zu enge, präzise und detaillierte Anweisungen werden meistens aus zweierlei Gründen gegeben. Zum einen neigen wir zu dieser „Überregulierung“, wenn wir die Situation kontrollieren wollen. Oft geht das einher mit einem bestimmten Rollenverständnis. Wenn ich als Führungskraft nicht nur die Verantwortung trage, sondern auch das Gefühl habe, persönlich das gewünschte Ergebnis sicherstellen zu müssen, werde ich entsprechend detaillierte Anweisungen geben und erwarten, dass diese haarklein eingehalten werden. Diese Haltung haben die meisten Führungskräfte, die aufgrund ihrer fachlichen Qualifikation ihre Stelle erhalten haben. Interessanterweise leugnen die meisten Führungskräfte, mit denen ich zu tun habe, sowohl das eine als auch das andere: Sie lehnen genaue Anweisungen ab und sind überzeugt, wegen ihrer Führungsqualitäten und nicht wegen ihrer guten fachlichen Leistungen befördert worden zu sein. Allerdings halten diese Sichtweisen meistens einer genaueren Prüfung nicht stand.
Es scheint mir wichtig, sich selbst gegenüber sehr ehrlich zu sein. Sonst wird man völlig unbewusst Anweisungen geben, ohne zu merken, wie man die Mitarbeiter einengt und ihnen die Motivation raubt. Sehr selten kommt es vor, dass die Mitarbeiter eine Führungskraft auf solche Probleme hinweisen. Wenn es getan wird, dann meistens nur einmal. Wenn die Führungskraft sich danach bemüht, die Dinge besser zu machen, aber nach einiger Zeit in die alten Reflexe verfällt, resignieren die Mitarbeiter (vorschnell) und sagen, dass es doch nichts bringt, etwas zu sagen.
Der andere Grund ist die latente Unterstellung, es mit wenig motivierten oder nicht wirklich kompetenten Mitarbeitern zu tun zu haben. Sich solchen Fehleinschätzungen zu entziehen, fällt manchem schwer, vor allen Dingen, wenn der betreffende Mitarbeiter eine andere Grundhaltung zur Arbeit hat als man selbst. Wenn der Vorgesetzte zum Beispiel wettbewerbsorientiert ist und sehr ambitioniert an Ziele herangeht, wird ein Mitarbeiter, dem es Freude macht, sehr genau zu arbeiten und Fehler zu vermeiden, ihm vorkommen wie eine lahme Schnecke. Der Vorgesetzte wird versucht sein, den Mitarbeiter ständig anzutreiben. Dieses Verhalten ist auch dann möglich, wenn er selbst prinzipiell die Qualitäten wie Genauigkeit und Perfektionismus schätzt. Leider fühlt es sich nicht gut an, so jemand „bei der Arbeit zuzusehen“, weil die Herangehensweise so verschieden von der eigenen ist.
Kommen wir zum anderen Ende der Skala: Hier haben wir einen Mangel an Regeln oder bei der Genauigkeit der Anweisung. Das Problem stellt sich natürlich besonders akut dar, wenn eine Führungskraft eine sehr heterogene Mannschaft in Bezug auf Kompetenz hat. Was für den einen noch lange nicht reicht, ist vielleicht für den anderen schon viel zu viel, weil er sich sehr gut auskennt und im Grunde außer einer Information über das „Was“ und das „Bis Wann“ gar nichts braucht. Oft fehlt einer Führungskraft die Zeit beim Geben der Anweisung, die Nuancen, die nötig wären, gründlich zu durchdenken.
Mangelnde Genauigkeit der Anweisung hat eine Verunsicherung des Mitarbeiters zur Folge. Ständig steht dann die Frage im Raum, ob er auf dem richtigen Weg ist oder die ganze Arbeit am Thema vorbeigeht. So eine Situation nagt verständlicherweise an der Motivation, ganz ähnlich wie die zu pingelige Anweisung, die jeglichen Spielraum nimmt.
Wenige Führungskräfte geben immer zu detaillierte oder immer zu lasche Anweisungen. Natürlich kann auf Grund der persönlichen Neigungen eine allgemeine Tendenz festgestellt werden. Diese Tendenz bedeutet aber nicht, dass jede Anweisung zu kleinlich ist bzw. zu unscharf. Es läuft auf eine Mischung hinaus. Durch was wird diese Mischung bestimmt? Mehrere Faktoren spielen eine Rolle, die alle durch die „Brille“ bestimmt sind, durch die die Führungskraft die Welt sieht. Scheint der Führungskraft das Thema relativ unwichtig und nicht besonders herausfordernd, wird sie automatisch die Prioritäten anders setzen und sich nicht die Zeit nehmen, detaillierte Anweisungen zu geben. Hält sie den Mitarbeiter für vertrauenswürdig, wird es ebenfalls weniger Input geben. Handelt es sich um einen Auftrag „von ganz oben“, wird so mancher eher dazu neigen, durch präzise Vorgaben ein gutes Ergebnis zu sichern.
Diese Liste lässt sich lange fortführen. Umso mehr, als dass sich hier die ganze Bandbreite an menschlicher Subjektivität zeigt. Gerade aufgrund dieser gewichtigen subjektiven Komponente, gibt es keine pauschale Lösung, kein Rezept, das die Kuh ein für alle Mal vom Eis holt. Allenfalls kann man mit Heuristiken [2] arbeiten, die eine akzeptable Orientierung geben. Eine solche Faustregel lautet: Die Anweisung so weit wie möglich und so eng wie nötig machen.
Praktisch bedeutet das nichts anderes, als den Mitarbeitern ausschließlich die Punkte genau vorzugeben, die für das Erreichen des Ergebnisses unerlässlich sind. Die Rede ist hier von der klassischen Herstell- oder Arbeitsanweisung, welche ab und zu zur Gedächtnisauffrischung dient. Das ist wie beim Backen: Hier sollte man sich sehr genau an ein Rezept halten, da chemische Prozesse im Spiel sind, die einfach nicht funktionieren, wenn die Mengenverhältnisse nicht stimmen. Da gibt es nichts zu rütteln und nichts zu diskutieren. Bei Prozessen, die nicht so stark durch die physikalischen Zwänge bestimmt sind, gelten natürlich andere Kriterien. Meistens geht es dabei um eine Standardisierung, die eine bestimmte Qualität oder, was oft noch wichtiger ist, eine bestimmte Effizienz sichern sollen. Das kennen wir von administrativen Abläufen oder von Produktionsprozessen.
Meine Empfehlung an Führungskräfte lautet meistens, als Anweisung das gewünschte Ergebnis (Menge, Qualität) und den Termin vorzugeben und dann zu fragen: „Wie kommen Sie zu diesem Ziel?“ Je nach Kompetenz des Mitarbeiters oder des Teams muss die Führungskraft im Anschluss mehr oder weniger Input geben, damit die Arbeit effizient und sicher erledigt wird. Natürlich erfordert dieses Vorgehen etwas mehr Zeit als eine knappe E-Mail mit straffem Marschbefehl zu verschicken, aber insgesamt wird das Ergebnis in den allermeisten Fällen besser sein.
Und das ist doch eine sinnvolle Sache, oder?
Zusammenfassung/ Überblick:
- Beim Geben von Anweisungen ist es oft schwierig, die richtige Balance zwischen Grenzen und Freiheit zu finden.
- Zu enge Grenzen wecken Gedanken an Flucht oder Revolte.
- Zu ungenaue Anweisungen – und damit zu viel Freiheit – können zu Angst und Verunsicherung führen.
- Anweisungen sind häufig zu eng formuliert, wenn die Führungskraft den Mitarbeitern einen Mangel an Motivation oder Kompetenz unterstellt.
- Zu unkonkrete Anweisungen geschehen situationsbedingt (oder auch durch falsche Einschätzung): bei unwichtigeren und nicht besonders herausfordernden Themen oder bei Mitarbeitern, denen man „blind“ vertraut,
- Oft gibt es ein Hin- und Herschwanken bei Anweisungen, mal zu eng, mal zu lasch. Das hängt von der subjektiven Wahrnehmung von Aufgaben und Mitarbeitern durch die Führungskraft ab.
- Eine Faustregel: Die Anweisung so weit wie möglich und so eng wie nötig fassen.
[1] Eine Fuge ist ein mehrstimmiges Musikstück, dem eine einfache Tonfolge zugrunde liegt und das sehr strengen Kompositionsregeln folgt. Bach war ein Meister der Fuge.
[2] Heuristik: Vorgehen, um mit begrenzten Mitteln (vor allem Zeit und Wissen) eine Entscheidung zu treffen oder eine Aktion zu planen