Das neue Arbeitszeitgesetz im viralen Lichte betrachtet
Verantwortung und Vertrauen sollten in einer Zeit wie der unsrigen die beiden Zauberworte sein. Doch neue Arbeitszeitgesetze sprechen eine andere Sprache, die im Lichte der aktuellen SarS-CoV-2-Krise zum babylonischen Durcheinander führen.
Das neue Arbeitszeitgesetz 2020 der EU fordert die Arbeitgeber auf, die tägliche Arbeitszeit der Mitarbeiter zu erfassen. Und zwar auf die Minute genau. Zumindest ist das eine logische Schlussfolgerung dieses neuen Gesetzes. Wie genau die deutschen Gesetze angepasst werden, bleibt abzuwarten. Sinn oder Unsinn dieser Entscheidung kann trefflich diskutiert werden. Interessant ist aber vor allem die Frage, was eine solche Initiative über unsere heutige Welt aussagt. Weiterhin wirft die gegenwärtige Krise (dieser Beitrag wird geschrieben im Jahre des Herrn 2020, am 28. März oder Tag 9 der bayrischen Ausgangsbeschränkung) ein besonderes Licht auf die gesamte Frage unserer Arbeitsweise.
Was sagt nun dieses Gesetz aus? Dass wir Menschen nach wie vor nicht reif genug sind, um auf ein Gesetz zu verzichten, das im Grunde nichts anderes besagt, als dass wir vernünftig mit unseren Kräften umgehen sollten. Offensichtlich klappt es nicht; deshalb muss ein Gesetz her, das den schwachen Arbeitnehmer gegen den mächtigen und gierigen Arbeitgeber verteidigt.
Doch leider gibt es „den Arbeitgeber“ nicht. Eine Institution (ein Unternehmen) ist kein Wesen (siehe dazu den Blogbeitrag „Das Unternehmen wünscht…“). Daher muss gefolgert werden, dass die Mitarbeitenden vor anderen Mitarbeitenden – auch Manager genannt – geschützt werden müssen. Es geht also um eine Frage der Beziehung von Mensch zu Mensch.
Um bei den heutigen Herausforderungen durch die Komplexität und der ökologischen Dauerkrise den richtigen Weg einzuschlagen und eine Welt an unsere Nachfahren weiterzureichen, die für uns nicht sehr peinlich ist, sondern auf die wir stolz sein können, braucht es bei den Menschen eine Grundhaltung von Verantwortung für das Ganze und gegenseitiges Vertrauen. Das gilt für Menschen untereinander, besonders in Unternehmen, aber natürlich auch für Regionen, Nationen, Kontinente. Das neue Arbeitszeitgesetz steht symbolisch dafür, wie sehr wir scheitern.
Wie kann es sein, dass ein Gesetz vorgeben muss, wie viele Minuten Pause zwischen „produktiven Aktivitäten“, (um das Wort Arbeit zu vermeiden), richtig und wichtig sind? Jeder, der sich selbst etwas beobachtet, weiß, dass jeder Tag anders ist. Manchmal sind wir fit und kraftvoll, können fokussiert arbeiten und erreichen richtig viel. Eine halbe Stunde Pause ist mehr als genug. An anderen Tagen wissen wir schon beim Aufstehen, dass es mühsam wird. Man kämpft sich durch den Tag, aber eigentlich hätte man im Bett bleiben können.
Um gleich einen Einwand vorweg zu nehmen: Hier ist nicht die Rede von Tätigkeiten, die nur im Verbund mit anderen durchgeführt werden können. Da muss man sich natürlich auf Pausenzeiten einigen. Das gilt für die meisten Produktionstätigkeiten, bei denen Maschinen den Takt vorgeben, aber auch für eine Orchesterprobe. Vertrauensarbeitszeit ergibt bei einem Symphonieorchester offensichtlich überhaupt keinen Sinn. Aber auch das Einhalten von elf Stunden Ruhezeit ist völlig unrealistisch, zum Beispiel auf einer Konzerttournee.
Wenn wir unsere Überlegungen auf die Berufe konzentrieren, bei denen die individuelle Gestaltung der Arbeit grundsätzlich möglich ist, stellen sich die Fragen nach Vertrauen und Verantwortung aber mit voller Wucht.
Verantwortung
Verantwortung muss es auf beiden Seiten der Führungsachse geben. Der Führende muss sich überlegen, was von den Geführten gefordert wird. Sind die Forderungen in einer Weise erfüllbar, die mit der Fürsorgepflicht vereinbar sind oder nicht? Jede Führungskraft, die ihre Rolle verstanden hat, sich für ihre Mitarbeiter ehrlich interessiert und die langfristig positive Entwicklung des Unternehmens und eigenen Teams im Blick hat, kann sehr genau einschätzen, wann das Maß der vernünftigen Anforderung überschritten ist. Es liegt im Interesse der Führungskraft und des Unternehmens, einen Arbeitsrahmen zu schaffen, der sowohl entspanntes als auch produktives Arbeiten ermöglicht. Dabei hat natürlich die gute Führungskraft auch ein Auge auf Mitarbeiter, die die eigene Organisation nicht im Griff haben oder von Natur aus dazu neigen, ihrem inneren Antreiber nachzugeben und sich zu überarbeiten.
Die Geführten haben wiederum die Verantwortung, auch ohne kleinkarierte Überwachung durch die Führenden, alles Nötige zu tun, damit das gewünschte Ergebnis erreicht wird. Sie haben ebenfalls die Verantwortung, für ihr Wohlergehen und ihre Produktivkraft zu sorgen. Das bedeutet, im richtigen Moment eine Pause machen, vielleicht auch einmal eine unproduktive Arbeit unterbrechen und einen Spaziergang machen oder auch mal in Ausnahmen zwei Stunden länger arbeiten, weil die äußeren Umstände es erfordern.
Vertrauen
Die Führenden müssen das Vertrauen haben, dass die Geführten aus wohlverstandenem Eigeninteresse und aus einem normalen, menschlichen Gefühl der Verpflichtung heraus die Arbeit tun, die ansteht und für die sie vom Unternehmen bezahlt werden. Dabei dürfen Ausnahmen – also Menschen, die nicht mit dem richtigen Verständnis bei der Arbeit sind und das Verhältnis zum Unternehmen als eine Frage des gegenseitigen Austricksens sehen – nicht dazu führen, dass daraus eine Regel entsteht.
Die Geführten müssen darauf vertrauen, dass die Führenden kompetent sind und tatsächlich das Nötige tun, dass sie gut arbeiten können, ihre Gesundheit und Lebensfreude erhalten bleibt und das Unternehmen dabei eine gute Entwicklung nimmt.
Ohne dieses gegenseitige Vertrauen sind Stempeluhren und Überstundendiskussionen unvermeidlich.
Input- gegen Output-Orientierung
Die ganze Diskussion um die Arbeitszeiten zeigt deutlich, wie wenig Führungskräfte und Mitarbeiter von der heutigen Art zu arbeiten verstanden haben. Denn es spielt bei den meisten Aufgaben, die Mitarbeitende zu erfüllen haben, nur eine untergeordnete Rolle, wie lange sie anwesend sind. Viel mehr kommt es drauf an, einen intelligenten Weg zu finden, das Ergebnis zu erreichen. Wie kommt man effizient zum Ziel? Wie sorgt man dafür, genau das richtige Qualitätsniveau zu erreichen, nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel? Findet ein Mitarbeiter einen Weg, seine Aufgaben in der Hälfte der Zeit zu erledigen, warum sollte er dann auf Biegen und Brechen die vorgeschriebenen 48 Stunden Arbeitszeit absitzen? Warum sollte er nur die vorgeschriebenen 30 Minuten Pause machen dürfen? Zwingt die Führungskraft ihn dazu, ist das Resultat automatisch eine sinkende Produktivität.
Zu Beginn der modernen Industrie hat der Mitarbeiter seinen Mehrwert vorrangig durch Präsenz geliefert: am mechanischen Webstuhl sitzen, im Bergwerk Kohle abbauen, am Fließband einen Ford T1 zusammenbauen. Wenn genügend Druck dahinter war, konnte man entsprechende Leistungen aus den Mitarbeitenden herausquetschen – und zwar bis zu 16 Stunden am Tag – noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Das hat das Managementdenken auf Input geprägt: Es kommt darauf an, wie viel der Mitarbeiter „reinsteckt“– an Kraft, Zeit, Schweiß.
Diese Sicht ist heute noch weit verbreitet. Deshalb fällt es vielen Unternehmen schwer, ernsthaft über Lösungen der Arbeitsgestaltung nachzudenken, bei denen nicht alle ständig unter Beobachtung stehen. Es kommen allerlei Einwände, alle natürlich nicht ganz ehrlich. Die wenigsten geben zu: „Ich will die Leute hier im Büro haben, denn zuhause, im Café oder im Park werden meine Mannen bestimmt nicht die vorgeschriebene Zeit arbeiten.“
Hier käme aber die dringend benötigte Output-Orientierung ins Spiel. Warum sollte ich mir als Führungskraft überhaupt solche Gedanken machen? Das Ergebnis der Arbeit sieht doch jeder. Die Mitarbeiterin kann sich doch gar nicht ständig zuhause mit der Freundin unterhalten oder der Mitarbeiter nur noch mit dem Nachwuchs spielen, denn dann würden die Aufgaben schlicht und einfach nicht gemacht werden. Das Unternehmen würde leiden und den Bach runtergehen. Warum (um alles in der Welt) sollten die Mitarbeitenden so mit ihrer Geldquelle umgehen?
Wenn Führungskräfte sich klar machen, dass es nicht darauf ankommt, was vorne reingesteckt wird (Input), sondern was hinten rauskommt (Output), würden sie von vornherein vieles anders anpacken; inklusive der Frage, wie es möglich ist, die Ergebnisse, die erzielt werden müssen, mit einem vernünftigen Maß an Input zu produzieren. Dann würde ein Arbeitszeitgesetzt unnötig wie ein Kropf.
Doch da es sich offensichtlich weder bei Personalverantwortlichen, noch bei Führungskräften herumgesprochen hat, worauf es wirklich ankommt, werden die Geführten an der kurzen Leine gehalten, die Produktivität ist absolut mittelmäßig, die Leute müssen sich immer länger mit Arbeit beschäftigen, die Gewerkschaften fühlen sich berufen, den Missstand zu reparieren, am Ende verlangt die EU Gesetzesänderungen.
Und dann kam Corona…
Ich habe seit Beginn der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus schon mehrere (fernmündliche) Gespräche mit (chronisch überlasteten) Managern geführt. Überrascht stellen alle fest, wie unglaublich produktiv sie dadurch sind, dass sie nicht im Büro arbeiten können, sondern zuhause bleiben müssen. Leidet die Arbeit allgemein? Nein, lautet die Rückmeldung. Na bitte, geht doch.
Was ist aber jetzt mit dem ganzen Misstrauen gegenüber dem naturfaulen Mitarbeiter? Meine Vermutung: Das SarS-CoV2 hat bereits die meisten Arbeitnehmer angesteckt und hat als Nebenwirkung… Fleiß.
Wenn sich in Folge der Krise eine veränderte Haltung gegenüber der Arbeitsweise durchsetzen sollte, was wird dann aus dem Arbeitszeitgesetz? Wie sollen Unternehmen zuverlässig die Stunden und Minuten erfassen, die ihre Lohn- und Gehaltsempfänger in das Abarbeiten von Aufgaben stecken? Dafür habe ich bereits eine Lösung parat, die zeitgemäß ist und zuverlässig. Ein kleiner Chip, an einer Stelle implantiert, wo er kaum stört (vielleicht in der Hüfte?), sendet mit 5G alle biometrischen Daten in die Cloud, wo eine KI diese auswertet. Fühlt sich die betreffende Person wohl, ist sie entspannt und hat Freude, schaltet das System auf Freizeit, geht es der Person eher schlecht, fühlt sie sich unter Druck oder ärgert sich über etwas, rechnet das System Arbeitszeit hoch. Ganz nebenbei können so natürlich auch Daten erhoben werden, die auf mögliche Infektionen hinweisen und gegebenenfalls einen Isolationsbefehl auslösen. Ich habe bereits eine entsprechende Software in Auftrag gegeben und gedenke, damit in naher Zukunft sehr viel Geld zu verdienen.
Die Frage, ob meine Investition sich rechnet, hängt davon ab, was nach der Krise anders sein wird als zuvor. Viele Kommentatoren und auch viele meiner Ansprechpartner äußern die Hoffnung, dass sich unsere Haltung zur Arbeit ändert (vielleicht hin zu mehr Output-Orientierung). Ich selbst betrachte meine Investition allerdings als ein Hochrisikogeschäft. Die Chancen, einen guten Return on Investment zu erzielen, liegen bei maximal 1/10.
Warum ich die Wahrscheinlichkeit für eine wirkliche Entwicklung der Arbeitsweise als so gering einschätze? Zwei Gründe sind anzuführen: Zum einen ist der Mensch ein Gewohnheitstier. Nach einer Ausnahmesituation hat er nichts Eiligeres zu tun, als sofort wieder in die alten Muster zu verfallen, die Sicherheit bieten. Nach dem Motto: Es ist zwar nicht sehr angenehm, aber es hat die letzten 30 Jahre gut funktioniert, also muss es sicher sein. Zum anderen ändert sich das Grundprinzip unseres Wirtschaftssystems durch die Krise nicht. Wir bleiben in einer Geldwirtschaft, die prinzipiell auf Zins- und Zinseszins aufbaut, woran auch sehr niedrige Zinsen nichts ändern. Dadurch bleibt der stetig steigende Druck auf die Unternehmen erhalten. Mit diesem Druck gehen die meisten Manager nach einem ganz einfachen Rezept um: Sie geben ihn an die Mitarbeitenden weiter. Wenn die Zahlen sich verschlechtern, ist der Reflex eines jeden Managers, Personal abzubauen. Die verbleibenden Mitarbeitenden werden das schon irgendwie hinkriegen. Sie sollen halt nicht so faul sein. Diese Haltung soll durch Corona einfach weggeblasen sein? Ehrlich gesagt, das Virus mag einen guten Job machen… für so gut halte ich es trotzdem nicht.
Für diejenigen Führungskräfte, die sich diese Tendenz des Zurückfallens in bekannte Muster bewusst machen, gibt es dennoch eine Chance. Dieses erzwungene Innehalten kann jeder für sich nutzen, um die eigene Haltung zu Input- und Output-Orientierung zu erkennen und gegebenenfalls zu ändern. Dass es sich im ersten Moment nicht so gut anfühlt, vielleicht sogar Angst macht, darf dabei kein Problem sein. Das ist die Natur von Änderungen, erzwungene oder freiwillige.
Zusammenfassung/Überblick:
- Die EU fordert die Mitgliedstaaten auf, die Arbeitszeitgesetze abzuändern. Künftig soll nicht nur die Arbeitszeit erfasst werden, die über die Regelarbeitszeit hinausgeht, sondern die gesamte Arbeitszeit.
- Die Notwendigkeit zu diesem Gesetz deutet auf einen Mangel an Reife bei den handelnden Akteuren hin. Führende wie auch Geführte übernehmen nicht Verantwortung und es fehlt ihnen an Vertrauen.
- Für die Führenden heißt Verantwortung, den Mitarbeitenden einen Rahmen zu geben, in dem gesundes Arbeiten möglich ist, für die Geführten bedeutet es, ohne externe Aufsicht das Nötige zu tun, damit die Aufgaben abgearbeitet sind.
- Vertrauen heißt, dass beide Seiten sich gegenseitig dieses verantwortungsvolle Handeln zutrauen.
- Führende müssen begreifen, dass es heute nicht mehr darauf ankommt, wie viel Zeit man bei der Arbeit ist (Input-Orientierung), sondern was dabei herauskommt (Output-Orientierung).
- Die Corona-Krise zwingt die Führenden dazu, das Vertrauen zu praktizieren.
- Eine dauerhafte Veränderung in den Arbeitsgewohnheiten ist zweifelhaft, da der Mensch ein Gewohnheitstier ist und nach einer Krise so schnell wie möglich zu den sicheren, alten Gewohnheiten zurückkehrt.