2020-04-30 / Die Mechanik des Geistes
Die Mechanik des Geistes
Warum Führungskräfte unbedingt viel von Psychologie verstehen müssen.
Psychologie ist nicht nur etwas für Psychologen. Auch Führungskräfte müssen sich bestens damit auskennen. Denn Psychologie heißt, die Funktionsweise unseres Geistes verstehen.
Jedes Mal wenn es etwas persönlicher wird, wenn die Führungsanforderung über das technische Fachwissen hinauszugehen droht, sehe ich, wie sich die Führungskräfte um mich herum versteifen. Das Lächeln wirkt aufgesetzt, der Blick ist flüchtig. Nur manchmal traut sich einer deutlich zu sagen, was er gerade denkt. „Das ist doch Psychologie…“ In dieser Aussage liegt ein Meer an Misstrauen und Verachtung.
Das ist auch nicht weiter verwunderlich. Psychologie wird auch heute noch zum größten Teil als etwas gesehen, das mit Krankheit zu tun hat. Und zwar eine sehr unangenehme Art der Krankheit, die Krankheit des Geistes. „Geh mal zum Psychologen“, ist eine Aufforderung, die ziemlich negativ gemeint ist, auch, wenn sie voller Fürsorge ausgesprochen wird.
Aus dieser Perspektive hat Psychologie im Unternehmen nichts verloren, schon gar nicht in einem guten alten deutschen Unternehmen, in dem solide gearbeitet wird und keine „großen G’schichten g’macht“ werden. Die typische deutsche Führungskraft ist ein Meister oder ein Ingenieur (der verschiedensten Fachrichtungen), der sich nach oben gedient hat und sein Geschäft gut kennt. Wo und wann bitte sollte man hier Psychologie brauchen? Die Mitarbeiter bekommen die Marschroute vorgegeben und zusätzlich hat die Führungskraft immer ein offenes Ohr für alle. Je nach Charakter gibt es obendrein noch eine nette persönliche Beziehung oder einen professionellen Umgang, dem Geschmack der Führungskraft entsprechend.
Gar keine Frage, diese Herangehensweise kann gut funktionieren. Allerdings darf nichts schiefgehen. Die Mitarbeiter müssen zuverlässig ihre Arbeiten erledigen, die Projekte müssen halbwegs reibungslos über die Bühne gehen usw. Aber wenn der Wind aus dem Markt anfängt härter zu wehen, das Unternehmen ein paar Investitionsstaus entstehen lässt, die Qualität anfängt zu leiden, die Termintreue zum Dauerthema wird, dann reicht diese Basisführungsarbeit möglicherweise nicht mehr aus.
Warum meiden Führungskräfte das Thema?
Mein Bild von der Führungskraft, die von Psychologie weder etwas versteht, noch etwas davon verstehen will, ist in manchen Fällen natürlich etwas überzogen. Doch im Großen und Ganzen ist diese Haltung weit verbreitet. Die Reaktion der meisten Führungskräfte, wenn das Gesprächsthema einen leicht psychologischen Charakter bekommt, ist vermutlich ein Zeichen von Angst. Keine panische Angst, die eine wilde Fluchtreaktion zur Folge hätte, sondern eine leise, diffuse Angst, die unterschwelliges Unbehagen hervorruft.
Woher kommt dieses Unbehagen? Ein Grund dafür ist sicher das oben erwähnte allgemeine Vorurteil, Psychologie sei etwas für Menschen, die einen „an der Waffel haben“. In gewissem Sinne sind Psychologie und Psychiatrie ja auch artverwandt. Ein weiterer Aspekt ist der unausgesprochene Verdacht, mit Psychologie könne man selbst durchschaut und die eigenen Unzulänglichkeiten könnten aufgedeckt werden. Das empfinden die meisten Menschen als einen Übergriff in ihre Privatsphäre. Zu Recht wehren sie sich dagegen. Und als letztes kommt das schlechte Gewissen mit ins Spiel: Es entsteht aus der Erkenntnis, welche die meisten Führungskräfte recht schnell erlangen, dass Führung ohne psychologisches Verständnis nicht erfolgreich sein kann. „Und doch“, so denkt sich die beschämte Führungskraft, „habe ich mich nie wirklich für dieses Thema interessiert oder mich wenigstens informiert.“ Das ist natürlich peinlich.Was ist Psychologie überhaupt?
Schauen wir uns zunächst genauer an, was Psychologie eigentlich ist[1]. Der Begriff bedeutet einfach:
Die Lehre von der SeeleDer Begriff „Seele“ kann allerdings im modernen Verständnis durch „Geist“ ersetzt werden, da Seele einen religiösen Beiklang hat, der nichts oder zumindest nicht viel mit Psychologie zu tun hat.
Wenn man sich dem Thema mit einem möglichst wissenschaftlichen Ansatz nähern möchte, ist es empfehlenswert, die aktuellen Erkenntnisse der Neurophysiologie ebenfalls zu integrieren. Demnach ist das, was wir unseren Geist nennen, eine Funktion unseres Gehirns, die aus einer schier unendlichen Vielzahl von elektrochemischen Prozessen entsteht. Um ein Bild aus dem alten Indien aufzugreifen: Man könnte sagen, es ist wie der Zaubertrick eines Taschenspielers, der uns äußerst geschickt eine Welt vorgaukelt, die es so nicht gibt. Das Trugbild, das er uns zeigt, ist so gut gemacht, dass wir es nicht durchschauen können. Unser Gehirn arbeitet wohl in ähnlicher Weise und ermöglicht uns, in dieser unserer Welt zurechtzukommen. Übrigens ist diese Sicht nicht neu. In näherer Vergangenheit hat schon George Berkeley (nach dem die Universität und die Stadt in Kalifornien benannt sind) eine entsprechende Theorie vertreten. Doch Anfang des 18. Jahrhunderts konnte er diese natürlich nicht empirisch beweisen.
Was aber macht die Psychologie mit diesem Geist, der so wunderbar funktioniert? Diese Wissenschaft versucht, durch viele Beobachtungen und Experimente, der besonderen „Mechanik“ des Geistes auf die Schliche zu kommen. Die Frage, die die Psychologie im Grunde stellt, ist: Mit welchen Mustern reagiert unser Geist auf die Impulse der Umwelt? Sicher ist jeder Führungskraft schnell klar, was das Verständnis davon bringen soll. Wenn ich diese inneren Muster kenne und verstehe, kann ich gezielt mein Handeln so ausrichten, dass es bei anderen die gewünschte Reaktion hervorruft. Außerdem kann ich dann das Verhalten, das ich bei meinen Mitarbeitern und Kollegen beobachte, richtig interpretieren und meine eigene Reaktion dementsprechend ausrichten.
Allerdings gibt es bei der Psychologie als Wissenschaft eines zu verstehen: Im Kern ist sie eine statistische Wissenschaft. Ergebnisse werden immer nur erzielt, indem eine ausreichend große Menge an Menschen beobachtet wird und aus den statistischen Ergebnissen Schlussfolgerungen gezogen werden. Diese erlauben es dann zu sagen, wie wahrscheinlich ein Verhalten ist. Außerdem versucht der Psychologe aus der Beobachtung Rückschlüsse zu ziehen, über die Art und Weise, wie der menschliche Geist auf eine bestimmte Situation reagiert.
Da es sich aber um eine statistische Methode handelt, sagt sie wenig über den Einzelfall des Mitarbeiters aus, der gerade vor uns steht. Um ihn zu verstehen, braucht es eine Kombination aus psychologischem Wissen und Intuition. Damit letztere funktionieren kann, ist die Fähigkeit zur Reflexion über den eigenen Geist unerlässlich.
Psychologische Modelle helfen Führungskräften
Doch auch für das Reflektieren über den eigenen Geist, das Studieren dessen Funktionsweise, liefert die Psychologie interessante Werkzeuge. Diese Werkzeuge sind Modelle, die auf eine stark vereinfachte Weise zeigen, wie wir funktionieren. (Ohne diese Vereinfachung hätten die Modelle keinen praktischen Nutzen. Die Realität ist hochkomplex und wir hätten gar nichts davon, wenn diese Komplexität im Modell mit abgebildet würde. Wir könnten niemals auch nur die kleinste Schlussfolgerung ziehen, um mit einer Situation fertig zu werden. Wir würden zu keiner Klarheit kommen, wenn wir mit Hilfe solcher realitätsnahen Modelle eine Situation analysieren wollten. Alle Beteiligten wären schon längst gestorben und vielleicht schon zu Staub verfallen, wenn Sie endlich Ihre Entscheidung gefällt hätten.)
Eines dieser einfachen Modelle, das weite Verbreitung gefunden hat und auch gern im Bereich Führung eingesetzt wird, ist die Transaktionsanalyse. Diese verdeutlicht, wie Beziehungen zwischen Menschen funktionieren. Insbesondere liefert die Transaktionsanalyse eine feine Beschreibung dessen, was während eines Gesprächs zwischen zwei Menschen abläuft. Bekannt sind Buchtitel wie „Ich bin OK – Du bist OK“ oder Schlagworte wie „Kind-Ich“ und „autoritäres Ich“. Es lohnt sich zu entdecken, was dahinter steckt, weil es dem Einzelnen erlaubt, auf nachvollziehbare Weise das Funktionieren des Bewusstseins sichtbar zu machen.
Ebenfalls des Studiums wert ist das Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“[2] von Daniel Kahnemann. Der Nobelpreisträger erläutert viele grundlegende Arbeitsweisen unseres Geistes. Sein Modell vom langsamen und vom schnellen Denken hilft zu verstehen, wann unser analytischer und vernünftiger Verstand tatsächlich aktiv ist und wann der schnelle Geist die Kontrolle übernimmt. Letzteres ist fast immer der Fall, denn das langsame, vernünftige Denken erfordert vom Körper sehr viel Energie. Dieser Energieeinsatz wird so oft wie möglich vermieden. Das schnelle Denken hingegen läuft energiesparend. Es arbeitet mit dem, was Kahnemann als Heuristiken bezeichnet, also einfache „Breiter-Daumen-Regeln“, mit denen Situationen sehr schnell beurteilt werden und entsprechend reagiert. Diese Regeln zu kennen ist mitunter äußerst hilfreich und schützt vor Überraschungen.
Das richtige Anwenden von Psychologiemodellen
Entscheidend ist allerdings, gerade für gute Führungsarbeit, dieses Wissen so zu vertiefen, dass es im Alltag anwendbar wird. Das bedeutet nichts anderes als zu verstehen, wie man selbst tickt, um sich in andere hineinversetzen zu können. Wollen Sie erfolgreich kommunizieren und einen Sinn vermitteln, müssen Sie letzteres unbedingt beherrschen.
Diese Anforderung ruft fast immer dieselbe Reaktion hervor: „Sich in andere hineinversetzen ist schwer, wenn nicht gar unmöglich“, wird dann eingewendet. Natürlich können Sie sich nicht wirklich in den anderen hineinversetzen. Das, was andere erleben, bleibt uns auf ewig verborgen. Also nutzt die ganze Psychokiste nicht viel… Könnte man meinen. So einfach ist es natürlich nicht. Denn erfolgreiche Kommunikation und Kooperation erfordern nicht perfektes Einfühlungsvermögen. Was wir brauchen, ist eine zuverlässige Intuition dessen, was unsere Mitmenschen wahrscheinlich tun werden.
Die zentrale Aufforderung lautet, zu „verstehen, wie man selber tickt“. Im Wort „ticken“ ist die gute alte mechanische Uhr versteckt, deren Ticken auf einem raffinierten, mechanischen Werk beruht. Zahnräder greifen auf präzise Weise ineinander. Dadurch wird ein ebenso präzises Ergebnis erreicht, nämlich die lineare Zeitmessung. Dieses Bild setzen wir unbewusst ein, wenn wir in Bezug auf unsere inneren Prozesse das Verb „ticken“ nutzen.
Diese Analogie können wir gut nutzen. Denn so, wie es zwar viele verschiedene Grade an Komplexität und Raffinesse in einem Uhrwerk gibt, basieren letzten Endes alle Uhrwerke auf den gleichen Grundprinzipien. Ein guter Uhrmacher, der diese Prinzipien beherrscht, wird sich sehr schnell in jeder Uhr zurechtfinden, auch wenn er ein Modell noch nie gesehen hat.
Gleiches gilt für unseren menschlichen Geist. Auch er funktioniert bei allen im Grunde nach einigen recht einfachen Prinzipien. Diese können sich zwar durch Kombinationen und Verästelungen zu unendlich komplexen Gebilden formen. Und doch können wir mit unserem Verstand und unserem Bewusstsein die grundlegenden Elemente gut erkennen und verstehen. Und diese grundlegenden Elemente sind bei allen Menschen gleich. Ebenso sind die Gefühle, mit denen der Geist arbeitet, bei allen dieselben. Je besser Sie diese Prinzipien verstanden und verinnerlicht haben, desto leichter fällt es Ihnen zu verstehen, was bei anderen los ist.
Seinen eigenen Geist verstehen
Allerdings hilft es wenig, dieses Wissen verstandesmäßig erfasst zu haben. Ein Buch lesen oder ein Seminar besuchen und sich sagen: „Ah, so funktioniert das, klar, hab ich kapiert…“, ist ungefähr so hilfreich, wie wenn ich Ihnen an einer Tafel erkläre, wie man Fahrrad fährt. Sollte ich nach einer solchen Erklärung erwarten, dass Sie sich auf den Sattel schwingen und munter losrasen, wäre ich ziemlich naiv. Das Gleiche gilt, vielleicht in noch stärkerer Form, für das Verstehen der Psyche. Wie es das immer hilfsbereite Wikipedia erläutert (ich bin regelmäßiger Nutzer und Unterstützer dieser Institution), ist Psyche der Ort, in dem sich alle geistigen Prozesse abspielen… Toll… Hilft das weiter? Weiß ich jetzt mehr über meine Psyche oder meinen Geist oder was auch immer in meinem Innern agiert? Nicht wirklich.
Das einzige, was hier hilft, ist tatsächlich gnadenlose Selbstbeobachtung. Dafür braucht es Fähigkeiten, die sich jeder aneignen kann. Es wäre allerdings etwas unfair zu behaupten, das sei eine Kleinigkeit. Um es korrekt darzustellen: Es ist zwar ganz einfach, aber (leider) überhaupt nicht leicht. Die wichtigste Fähigkeit ist, die Ablenkung der Gedanken zu reduzieren und dadurch zunehmend Klarheit über innere Vorgänge zu gewinnen. Und zwar während man gleichzeitig mehr oder weniger verzweifelt versucht, die vielen alltäglichen Herausforderungen in den Griff zu bekommen. Das Thema der Beruhigung und Schärfung des Geistes ist weit und tief. Und natürlich hat es auch im weiteren Sinne etwas mit Psychologie zu tun, soll aber dennoch hier nicht weiter betrachtet werden.
Stattdessen kommen hier die psychologischen Modelle ins Spiel. Wenn nämlich die Selbstbeobachtung beherrscht wird, heißt es noch nicht, damit auch wirklich etwas anfangen zu können. Die Entdeckungen der Psychologie geben hier eine gute Orientierung. An die Transaktionsanalyse angelehnt, können Sie beobachten, ob Sie eher dazu neigen, im Hochstatus, mit einem ausgeprägten „autoritären Ich“ (auch „Eltern-Ich“ genannt) zu sprechen oder umgekehrt im „Kind-Ich“. Das Schöne dabei ist: Ein Richtig oder Falsch gibt es nicht, auch kein Gut oder Schlecht. Es gibt nur ein „Aha, so läuft das also…“.
Sie können auch beobachten, wie bei Ihnen die sogenannten kognitiven Verzerrungen funktionieren. Zum Beispiel der berühmte Bestätigungsfehler, im Fachjargon gern mit dem englischen Begriff „Konfirmation Bias“ bezeichnet. Dieser Bestätigungsfehler verleitet uns dazu, sobald wir von etwas überzeugt sind, in der Welt um uns herum ganz viele Dinge zu sehen, die genau das bestätigen, was wir ohnehin schon längst wussten. Nach dem Motto: „Ich hab’s doch schon immer gewusst…“. Die gute Nachricht ist: Wir alle – auch Sie – haben diesen Bestätigungsfehler. Sie müssen also nur danach Ausschau halten.
Die anderen verstehen
Der praktische Nutzen dieser Übungen, sofern sie konsequent gemacht werden, ist die Fähigkeit, intuitiv zu wissen, wenn bei anderen ähnliche Denkmuster ablaufen. Natürlich ist dieser Bewusstseinsprozess nicht fehlerfrei. Tatsächlich ist es Menschen aber besser möglich, als viele es sich überhaupt klar machen, die inneren Vorgänge anderer zu verstehen. Dazu leistet die Arbeit der Psychologen einen wertvollen Beitrag, ähnlich, wie in vergangenen Zeiten die Kartographen in unendlicher Geduld und Mühe unbekanntes Territorium durchstreiften und topographische Merkmale aufnahmen. Das Ergebnis erleichtert uns die Orientierung ungemein.
Zusammenfassung/Überblick:
- Führungskräfte bauen nach wie vor lieber auf Fachwissen statt auf Kenntnis und Verständnis von Psychologie.
- Psychologie leidet am Image, nur etwas mit geistiger (Un-)Gesundheit zu tun zu haben.
- Psychologie ist nichts anderes als eine Wissenschaft, die versucht, die Mechanismen unseres Geistes zu verstehen und zu beschreiben.
- Durch die Modelle, die die Psychologen entwickelt haben, können auch Nicht-Spezialisten schnell ein gutes Verständnis von den inneren Vorgängen entwickeln.
- Der Schlüssel ist, die Modelle zu nutzen, um das Funktionieren des eigenen Geistes kennenzulernen.
- Wer den eigenen Geist mit Hilfe der Modelle und Ergebnisse der Psychologie studiert hat, wird wesentlich schneller erfassen, was den anderen bewegt.
[1] Ich bin kein Psychologe und mein Wissen zu diesem Thema basiert nur auf meiner eigenen Neugier und verschiedenen Lektüren. Ein studierter Psychologe wird mit Sicherheit viele Unzulänglichkeiten in meinen Überlegungen finden. Trotzdem erlaube ich mir, diese Überlegungen anzustellen, da es mir wichtig erscheint, den Nutzen eines psychologischen Verständnisses für Führungskräfte, insbesondere für die Kommunikation, zu betonen.
[2] Zum Buch von Daniel Kahnemann gibt es einen Hinweis unter Inspirationen.