2018-06-28 / Regeln
REGELN ERLEBEN
Wie man mit Geschichten das Einhalten von Regeln erleichtert.
Nicht jede Regel leuchtet sofort ein. Dadurch wird es oft schwer, sich daran zu halten. Denn was soll das bringen? Doch die meisten Regeln haben ihren Ursprung in einem Vorfall, der sie erklärt und nachvollziehbar macht.
REGEL: Beim Tragen der Skier werden die Spitzen immer nach vorne gehalten.
Ich erinnere mich noch gut an einen kalten, sonnigen Morgen, an dem viele erwartungsfrohe Skisportler vom sich langsam füllenden Parkplatz in Richtung der Talstation strebten. Mit schweren Skistiefeln am Fuß, ausstaffiert mit Anoraks, Handschuhen und Helmen, schwankten sie über den rutschigen Asphalt. An mir lief eine junge Frau vorbei, den Helm am Ellbogen tragend, eine coole Sonnenbrille auf der Nase. Ich achtete nicht weiter auf sie, gerade damit beschäftigt, Skistöcke und Ski zu sortieren. Plötzlich hörte ich einen Schrei und kurz darauf ein Krachen. Vor mir auf dem Boden lag die junge Frau, eine hässliche Schnittwunde an der Stirn, aus der Blut über ihre Wange lief. In ihrem Schock hatte sie noch gar nicht richtig realisiert, was gerade passiert war.
Tja, was war passiert? Ein Herr, der vor ihr lief und sich offensichtlich mit Skifahren nicht auskannte, hatte seine Ski mit den Spitzen nach hinten getragen, wodurch der längere Teil der Bretter über seinen Rücken hinausragte. Außerdem waren die Skier nicht sauber übereinandergelegt, so dass die Kanten frei waren. Und dann passierte es: Die Gattin des Herrn rief ihm von hinten etwas zu. Instinktiv drehte er sich um… Das Weitere braucht nicht erläutert zu werden.
Er war untröstlich, was aber wenig half. Ich vermute, dieser Skitag dürfte für ihn gelaufen gewesen sein, von der jungen Frau ganz zu schweigen, die erst einmal genäht werden musste und sich sicher nicht über die Perspektive einer großen Narbe auf der Stirn gefreut hat.
Zusammenfassend gesagt: Tragen Sie immer die Ski mit den Spitzen nach vorne (und drehen Sie sich auch dann nicht spontan um). Sonst könnte es Ihnen den Skitag versauen.
Mit Geschichten einen Eindruck hinterlassen
Was glauben Sie: Werden Sie sich ab jetzt diese Regel leichter merken können? Hat diese Geschichte einen „Eindruck“ hinterlassen? Um ehrlich zu sein, die Geschichte ist frei erfunden, dieser Unfall hat so nie stattgefunden, zumindest nicht vor meinen Augen. Er hätte aber so oder ähnlich passieren können und vermutlich passieren solche Unfälle tatsächlich.
Hier geht es nun um die Frage, wie man eine Regel überzeugend einführt.
Die beste Regel ist die, an die man gar nicht mehr denken muss, weil die Einhaltung einem in Fleisch und Blut übergegangen ist. Das ist natürlich bei den Spielregeln des Lieblingssports der Fall. Man kennt sie in- und auswendig, man hat eine Menge kleiner Vorkommnisse und Geschichten im Sinn, die sich rund um das Einhalten und Nichteinhalten von Regeln drehen.
Wie entstehen Regeln?
Wir denken darüber selten nach, meistens wirken sie auf uns wie ein Naturgesetz, das weder diskutiert noch in Frage gestellt wird. „Die Regel wird wohl schon ihren Grund haben“, denken wir manchmal resigniert. Aber natürlich ist das nicht so einfach.
Die ersten Mönche waren Buddhisten. Tatsächlich ist Buddha mit dem Mönchstum eine weltweite Innovation gelungen, die zwei Jahrtausende lang ein großer, interkultureller Erfolg war. Am Anfang gab es für eine Handvoll Mönche auch nur eine Handvoll Regeln. Nach und nach wurden es immer mehr. Heute muss sich ein ordinierter Mönch 227 Regeln merken und eine Nonne sogar 311. Diese Regeln wurden von Buddha gewissermaßen „on the fly“ entwickelt und zwar jedes Mal, wenn es einen Vorfall gab, der zu Problemen führte. Also hatte jede Regel ihre eigene Geschichte, die man erzählen konnte, um deren Sinn zu verdeutlichen. Da die Regeln inzwischen sehr alt sind, kann bezweifelt werden, ob der Sinn heute noch immer nachvollziehbar ist. Doch das ist nicht Ihr Problem als Führungskraft eines modernen Unternehmens.
Für viele weitere Regeln gilt natürlich dasselbe wie für Mönchsregeln. Ihre Daseinsberechtigung erhalten sie von bestimmten Erfahrungen. Man kann sogar sagen, dass das Aufstellen von Regeln eine pragmatische Methode der Menschheit ist, Erfahrungswissen weiterzugeben.
Erfahrung ist auch in einer anderen Weise die Quelle von Regeln. Aufgrund verschiedener Erfahrungen können nämlich Unfälle oder andere unerwünschte Vorkommnisse (Qualitätsmängel) antizipiert und mit einer Regel oft vorgebeugt werden. Letzten Endes steckt auch da eine Geschichte dahinter, genauer genommen sogar mindestens zwei. Die eine Geschichte ist die, die zu einer negativen Erfahrung geführt hat: Etwas ist in der Vergangenheit vorgefallen. Aufgrund dieses Vorfalls weiß derjenige, der es erlebt hat, wie man am besten mit dieser oder ähnlichen Situationen umgehen sollte. Daraus wird dann eine Regel abgeleitet. Die zweite Geschichte ist diejenige, die in der Fantasie entsteht und sich meistens auf die Erfahrung der ersten Geschichte gründet. Sie antizipiert etwas, das passieren könnte.
Natürlich ist es nicht nötig, die früheren Erfahrungen selbst gemacht zu haben. Wenn uns jemand eine gute Geschichte erzählt, die uns ausreichend berührt, haben wir ein inneres Erleben. Wenn die Geschichte sehr gut erzählt wird, kann sie fast so stark wirken, wie ein tatsächliches Erlebnis. Die Technik ist erprobt. Denn über Geschichten – genau wie über Regeln – wird schon seit Jahrtausenden Wissen von Generation zu Generation weitergegeben.
Regeln richtig verständlich machen
Was ist zu beachten, wenn Sie eine Regel verständlich machen wollen und dafür eine Geschichte einsetzen?
Im Grunde sind es Punkte, die bei jedem „Storytelling“ wichtig sind, die hier berücksichtigt werden sollten:
• Bauen Sie einen Rahmen, ein Bühnenbild auf, in dem die Geschichte spielt.
• Seien Sie präzise, wenn Sie die handelnden Personen beschreiben, damit diese lebendig werden.
• Bauen Sie Spannung auf.
• Halten Sie die Geschichte kurz und prägnant. Verzichten Sie auf unnötige Ausschmückungen.
Schauen wir uns die einzelnen Punkte genauer an:
Bauen Sie einen Rahmen, ein Bühnenbild auf, in dem die Geschichte spielt.
Unser Ziel ist es, den Mitarbeitern eine Erfahrung zu verschaffen, die eine bestimmte Regel erlebbar macht und deren Sinn verdeutlicht. Wir zielen also nicht auf die Vernunft ab, sondern auf den emotionalen Teil des Gehirns[1]. Damit die Gefühle angesprochen werden, brauchen wir ein starkes inneres Bild. Dieses Bild entsteht in der Vorstellung umso leichter, je mehr „Bilddaten“ vorliegen.
Beispiel (Variante für eine schriftliche Erzählung): „Als das Ganze passierte, stand Norbert gerade am Geländer über dem Pulper[2]. Der Geruch der Manche im Pulper war nicht so penetrant wie im Sommer, aber immer noch ziemlich stark…“
Seien Sie präzise, wenn Sie die handelnden Personen beschreiben, damit diese lebendig werden.
Als Menschen „docken“ wir emotional am leichtesten an andere Menschen an. Dieser Effekt verstärkt sich nochmals, wenn wir uns dem besagten Menschen nah fühlen, zum Beispiel aus kulturellen Gründen. Daher beschreiben Sie, soweit möglich, die betroffenen Personen einer Geschichte lebensnah und mit einigen Details, die Hintergrundinformationen geben.
Beispiel (Variante für mündliche Erzählung): „Wisst Ihr, der Norbert hatte bei uns gelernt und ist dann für ein paar Jahre in die Autoindustrie als Elektriker. Aber dann haben ihm die Berge gefehlt und er ist zu uns zurückgekommen …“
Bauen Sie Spannung auf.
Wenn eine Geschichte auf spannende Weise erzählt wird, löst sie beim Gegenüber mehr Gefühle aus. Das erzielt eine nachhaltigere Wirkung. Einfach formuliert: Man baut Spannung auf, indem man den Zuhörer „nervt“. Große Ankündigungen werden nicht eingelöst, zumindest nicht gleich.
Beispiel: „Wenn ich bloß an den Vorfall denke, wird mir schon ganz anders. Ich bin sicher, Norbert hat an diesem Morgen nicht im Traum daran gedacht, dass ihm so etwas passieren würde. Und dabei war es noch keine drei Wochen her, dass er selbst auf eine Schwäche im Geländer hingewiesen hatte. Aber das wäre ja auch gar kein Problem gewesen, wenn nicht wegen einer undichten Dachluke Regenwasser auf dem Boden gewesen wäre…“
Kurz, der Zuhörer sollte den dringenden Wunsch verspüren, Sie zu erwürgen, wenn Sie nicht bald zu Potte kommen und endlich erzählen, was mit dem armen Norbert damals passiert ist. (Natürlich sollte der Effekt nicht übertrieben werden.)
Halten Sie die Geschichte kurz und prägnant. Verzichten Sie auf unnötige Ausschmückungen.
Diese Anweisung steht nicht im Widerspruch zur vorherigen. Spannung heißt nicht, weitschweifig um den heißen Brei herumzureden. Es ist nur ein Hinauszögern des Höhepunktes, was jedoch mit relevanten Informationen bewerkstelligt wird. Dabei ist zu beachten, dass „Weitschweifigkeit“ subjektiv ist, ein Empfinden, das durch kulturelle Gewohnheiten bestimmt wird. Hinzu kommen persönliche Vorlieben des Empfängers. Es ist daher auch gut, seine eigenen Sprachgewohnheiten zu kennen.
Zum Abschluss liefere ich hier gern eine leider nicht fiktive Beschreibung eines Unfalls aufgrund des Nichteinhaltens etablierter Sicherheitsvorgaben:
Die Regel lautet: Beim Öffnen von Leitungen, welche toxische Chemikalien unter Druck transportieren, muss die Leitung geleert, gespült und optisch markiert werden (Verwechslungsgefahr, 4-Augen-Prinzip). Der Techniker muss beim Öffnen der Leitung Schutzkleidung tragen: Atemmaske, die das ganze Gesicht bedeckt, Sicherheitshandschuhe.
Für künftige Generationen liefert der Bericht dieses Vorfalls eine „Geschichte“, die erklärt, warum diese Anweisung wichtig ist. Vielleicht werden Sie fragen, warum diese Geschichte überhaupt notwendig ist. Ist es nicht offensichtlich, dass sich jeder vor gefährlichen Chemikalien schützen möchte? Leider ist es nötig, denn sich an die Prozedur zu halten, ist erstens zeitaufwendig und zweitens umständlich. Eine Schutzausrüstung sieht in Filmen zwar cool aus und macht was her. Doch für den, der drin steckt, ist das Ganze ziemlich unangenehm.
Hier ist nun die Geschichte, in einer von vielen Versionen. In diesem Fall wird sie vom Geschäftsführer persönlich erzählt. Sicherlich wurde sie (und wird sie immer noch) auch von jemand anderem erzählt, dann mit entsprechend anderem Tenor.
„Letzten Freitag hatten wir einen Unfall, der mich ebenso traurig wie wütend macht. Dieses schockierende Vorkommnis zeigt, wie wichtig die Richtlinie XYZ ist. Lieber wäre mir, über dieses Geschehen nicht berichten zu müssen, aber es ist nun einmal passiert.
Am Freitag war das Wetter zwar warm, jedoch für die Jahreszeit nicht übermäßig. Auch gab es einiges zu tun, allerdings nicht so exzessiv, dass viel Stress geherrscht hätte. Vielleicht freute sich der Mitarbeiter einfach schon auf das Wochenende und wollte fertig werden.
Für die Arbeit sollte eine Leitung geöffnet werden, durch die ein hochkorrosives Produkt unter Druck fließt. Der Flansch konnte nur über eine Leiter erreicht werden, die Leitung verläuft an dieser Stelle durch einen wahren „Leitungssalat“.
Der Mitarbeiter entleerte und spülte also die Leitung vorschriftsmäßig. Dann stieg er auf die Leiter, um den Flansch zu öffnen und setzte seinen Schraubenschlüssel an. Und schon war der Unfall nicht mehr aufzuhalten.
Tatsächlich hatte der Mitarbeiter zu diesem Zeitpunkt zwei Vorschriften missachtet, die ihn hätten entscheidend schützen können. Erstens hätte die richtige Leitung zuvor von einem Kollegen markiert werden müssen. Das ist übrigens gar nicht so leicht, wie man meinen könnte. Ich selbst habe versucht, in dem Gewirr die Leitung zu finden und zu markieren. Es ist mir nicht gelungen. An dieser Stelle haben wir also das Problem einer Fehlkonstruktion. Zweitens hätte er Schutzhandschuhe und Gesichtsmaske tragen müssen. Stattdessen hatte er nur Laborhandschuhe an und die normale Schutzbrille auf.
Und dann passierte es: Der Mitarbeiter öffnet den Flansch der falschen Leitung, die unter mehreren Bar Druck steht. Das hochkorrosive Produkt schießt heraus und ergießt sich über seine Hand, die den Schraubenschlüssel hält.
Was mich schaudern lässt: Um ein Haar wäre die Chemikalie nicht in Richtung seiner Hand geschossen, sondern direkt in sein nach oben gewandtes Gesicht. Das wäre womöglich tödlich gewesen, mit Sicherheit wäre er erblindet.
Als ich den Mitarbeiter im Krankenhaus besucht habe, wo er viele Wochen bleiben muss, zeigte er mir unter dem Verband seinen Handrücken: schwarz…“
(Diese oder eine ähnliche Geschichte kann wie aufgeschrieben in unter zwei Minuten, ohne Eile, erzählt werden.)
Zusammenfassung/ Überblick:
- Eine Regel wird besser eingehalten, wenn sie „eindrücklich“ erklärt wird.
- Geschichten prägen sich besser ein als rationale Erklärungen. Sie sprechen unser Gehirn ganzheitlich an: rational und emotional.
- Regeln entstehen meistens aufgrund konkreter Vorfälle.
- Ein guter Weg, eine Regel verständlich zu machen, ist, die Geschichte ihrer Entstehung zu erzählen.
- Folgende Regeln helfen, die Geschichte der Regel besser zu erzählen:
- Bauen Sie einen Rahmen für die Handlung auf.
- Seien Sie präzise.
- Bauen Sie Spannung auf.
- Drücken Sie sich kurz und prägnant aus.
[1] In der Realität gibt es diese Trennung gar nicht, doch in unserem Fall hilft sie zu verdeutlichen, worum es geht.
[2] Pulper: Eine Art riesengroßer Mixer, in dem Altpapier zu einer Masse verarbeitet wird, aus der neues Papier oder Karton gemacht werden kann. Sieht sehr beeindruckend aus und nicht besonders appetitlich, mit einer grauen Pampe, die darin einen Strudel bildet. Details sind zu finden unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Pulper