2018-09-01 / Kontroll-Illusion
Kontroll-Illusion
Woran Führungskräfte denken sollten, um Frustrationen zu vermeiden.
Viele von uns gehen mit Überzeugungen durchs Leben, die sich gut anhören, uns aber das Leben mitunter schwer machen. Dazu gehört die Idee: „Wer nur hart genug arbeitet, erreicht seine Ziele.“ Schön wär’s… Dahinter steckt eine ideelle Weltsicht, die den Blick auf die Realität verstellt und zu falsch ausgerichteten Kraftakten führt.
Zunächst muss ich hier ein Geständnis ablegen: Ich habe bis zu diesem Zeitpunkt kein einziges Werk von Lew Nikolajewitsch Tolstoi gelesen. Das ist an sich nichts Peinliches, aber für jemanden wie mich, der sich für einen Intellektuellen hält, ist das nicht gerade rühmlich. Jetzt habe ich, mit sehr großem Interesse, dieses Manko korrigiert, indem ich Tolstois’ dritten und letzten Roman, „Auferstehung“, gelesen habe. Die Werke Tolstois’ stehen schon lange, fast vollständig (Anna Karenina fehlt leider), sehr dekorativ in unserem Bücherregal im Wohnzimmer, in einer deutschen Ausgabe aus dem Jahr 1928. Wie bin ich zu diesen antiken Bänden gekommen? Die Geschichte passt zum Werk Tolstois’ und ist daher erwähnenswert.
Eines Tages kam mein Vater aus seiner Anwaltskanzlei zurück und erzählte, er sei wegen einer Testamentsvollstreckung kontaktiert worden. Dass er diesen Auftrag irgendwann angenommen hatte, war ihm vollkommen entfallen. Offensichtlich hatte die Erblasserin, nennen wir sie Frau B., meinen Vater Jahre zuvor aufgrund einer Empfehlung als Testamentsvollstrecker eingesetzt. Und nun war der Tag auf tragische Weise gekommen, an dem er sein Amt antreten musste.
Frau B. war kurz zuvor einem Raubmord zum Opfer gefallen. Der Mörder, ein junger Mann, wurde gefasst und verurteilt. Tolstoi würde die Frage stellen, was einen jungen Menschen zu einem Dieb und Mörder gemacht hat.
Im Nachlass von Frau B. befanden sich eine Unmenge wertvoller Bücher, in den verschiedensten Sprachen. Die meisten waren mit Anmerkungen versehen, was bewies, dass Frau B. die Bücher nicht nur zusammengetragen, sondern auch wirklich mit Interesse gelesen hatte. Sie vermachte ihre gigantische Sammlung testamentarisch der Stadtbibliothek, doch diese war nicht an allen Werken interessiert. Und so kam ich zu einigen Prachtexemplaren darunter auch der Tolstoi-Kollektion.
Welche Verbindung hat diese Geschichte mit dem Roman „Auferstehung“ fragen Sie sich vielleicht jetzt, mit zunehmender Ungeduld? Hier kommt die Aufklärung: Der Roman dreht sich in weiten Teilen um die Themen des Gerichts- und Gefängniswesens aus der Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Russland. Wie Sie sich denken können, ging es zu dieser Zeit nicht besonders gerecht zu, zumindest wenn man Tolstoi Glauben schenken kann. Es geht um eine junge Frau, die vom adligen Neffen ihrer Herrin verführt wird, ein Kind bekommt, auf die schiefe Bahn gerät und schließlich eines Mordes angeklagt wird, bei dem sie unwissentlich beteiligt war. Tolstoi beschreibt den Prozess, bei dem – Ironie des Schicksals – ihr damaliger Verführer unter den Geschworenen sitzt, in wunderbar epischer Breite.